The lower the better – von Leitlinien, die man als Ärzt:in eher ignorieren sollte

2019 präsentierte die Europäische Gesellschaft für Kardiologie (ESC) die Aktualisierung ihrer Leitlinie zum Management der Dyslipidämie, also dem Umgang mit erhöhten Blutfetten [1]. Fast schon vorhersehbar war dabei die Quintessenz der Empfehlungen: eine noch größere Patient:innengruppe mit noch niedrigeren Zielwerten behandeln – „as low as possible“ wurde als Credo ausgerufen.

Eine Leitlinie gibt behandelnden Ärzt:innen in der Regel einen auf der zum Veröffentlichungszeitpunkt “besten verfügbaren Evidenz” (also den aussagekräftigsten Studiendaten) basierenden Überblick über die Behandlung einer Erkrankung oder das Umgehen mit einer Risikokonstellation. Gerade aber an den solchen Grundprinzipien mangelt es dieser speziellen Leitlinie. Unsere Kritikpunkte als Allgemeinmediziner:innen finden Sie im Folgenden.

1. Die Leitliniendefinitionen tragen zu einer Neuerschaffung von behandlungswürdigen Kranken , die bislang als gesund galten (“Disease Mongering”)

Neben einer Risikoabschätzung anhand eines etablierten Risikoscores und einer damit verbundenen vernünftigen Einteilung in verschiedenen Risikogruppen (geringes, moderates, hohes und sehr hohes Risiko für Herz-Kreislaufereignisse) lösen einzelne Fallsituationen automatisch die Zuschreibung eines sehr hohen Risikos aus: ohne Zweifel ist der stattgehabte Schlaganfall oder Herzinfarkt mit dieser Konstellation korrekt verortet. 

Neu ist unter anderem nun aber, dass auf einmal auch alle Menschen mit zufällig festgestellter Verkalkung der Halsgefäße oder Verkalkungszeichen an Herzkranzgefäßen in einer CT-Aufnahme in den Fokus einer hohen Risikosituation gerückt werden – und das obschon sie möglicherweise nie ein einziges Symptom verspürt, geschweige denn ein Ereignis erlitten hätten. Die Leitlinie geht sogar noch weiter und empfiehlt, ungezielt nach solchen “Risikomodifiern” zu suchen („Screenning“). 

Schon hier krankt das Leitlinienprinzip einer “evidenzbasierten Empfehlung”, gibt es doch gerade für sogenannte Carotisplaques (Verkalkung der hirnversorgenden Arterien) bislang weder Beweise, dass ihr Vorhandensein mit einem früheren Tod oder gar die vorbeugende Behandlung mit Statinen oder ASS bei einem Vorhandensein zu einem längeren Leben führen würde. 

Aus größeren Studien ist bekannt, dass bei ungezielter Suche bei 30-50% [3,4,5] der Personen Carotisverkalkungen gefunden werden – damit würden also unter Beachtung o.g. Definition ein großer Teil der Bevölkerung in eine behandlungswürdige Patient:innengruppe verwandelt! 

Wohin der Weg hier geht ist klar, denn schon heute sind wir mehrfach wöchentlich mit den Ergebnissen dieser Maßgaben konfrontiert: kaum wurde eine Verkalkung der Halsschlagader gesehen ergeht die spezialistische Empfehlung, unbedingt einen “Fettsenker” und am besten auch “ASS” einzunehmen. Leider gibt es aber bisher keine Studien, die einen Nutzen für diese Strategie ermitteln konnten [6]. Die Leitlinie bewegt sich hier bestenfalls auf dem Evidenzniveau einer “Expertenempfehlung”! 

2. Das Therapieziel einer am LDL-Wert ausgerichteten Behandlung bleibt ohne einen Nutzenbeweis. 

Bevor nun ein lauter Aufschrei kommt: Ja – die Höhe des LDL korreliert tatsächlich mit dem Risiko für kardiovaskuläre Ereignisse! Je höher dieser Wert ist umso höher ist, grob formuliert, auch das Risiko eines Patienten ein solches zu erleiden. Auch die Absenkung des LDL-Wertes durch medikamentöse oder nichtmedikamentöse Maßnahme als probate Option, die Auftretenswahrscheinlichkeit von Herzinfarkten oder Schlaganfällen zu mindern, ist zweifelsfrei bewiesen. 

Interessanterweise gibt es aber keine Daten aus hochwertigen (randomisierten, kontrollierten) Studien, die für das Erreichen der von der Leitlinie ausgerufenen LDL-Ziele einen signifikanten Nutzen zweifelsfrei belegen.

Noch nicht einmal der grundsätzliche Sinn einer Zielwertstrategie („Treat-to-Target“) ist bislang bewiesen: die Sterblichkeit aufgrund von Herz-Kreislauf-Ereignissen konnte nicht, die Gesamtsterblichkeit nur ganz marginal in zwei großen Studien (FOURIER [7], ODYSSEY-OUTCOME [8]) durch eine LDL-Zielwert-Strategie gesenkt werden. Hier profitierten aber auch nur Menschen, die einen Ausgangs-LDL von < 100mg/dl hatten. 

Dagegen gibt es für die auch von unserer Fachgesellschaft, der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin (DEGAM), propagierten “Fire-and-Forget-Strategie” unverändert gute Nutzenbelege: in allen Risikogruppen kann durch die Gabe einer Fixdosis eines Statins (z.B. 40mg Simvastatin)  eine relative Risikoreduktion um 20-23% erwirkt werden – unabhängig davon, welcher LDL-Wert erreicht wurde – selbst eine extreme Absenkung des LDL auf 63mg/dl war ohne zusätzlichen Vorteil [9]! 

Im realen Leben der täglichen Sprechstunde sehen wir nun häufig Patient:innen, die schon eine entsprechende Statintherapie einnehmen und, vorrangig von Spezialist:innen, mit LDL-Werten “über ihrem Zielbereich” konfrontiert werden. Die maximalen Dosissteigerungen der Fettsenker führen aber nicht selten zu Unverträglichkeiten oder Muskelschmerzen. Weiterhin wird z.B. durch Dosisverdopplungen eben keine doppelt so gute Wirkung hinsichtlich des LDL-Cholesterins erreicht. Wie gut, dass die Pharmaindustrie genau dafür mittlerweile ja (sündhaft teure) Medikamente bereitstellt, z.B. das über 2-wöchentliche Spritzen zu verabreichende Evocolumab, einem sog. PCSK-9-Hemmer (Repatha)…

3. Die Leitlinie ist alles andere als unabhängig und hat im speziellen Fall eher schon die Bezeichnung als “Handreichung der Pharmaindustrie” verdient

Leitlinienautor:innen sitzen an einer bedeutsamen Schaltstelle mit viel Einfluss auf das Verordnungsverhalten aller Ärzt:innen. Klar, dass hier Unabhängigkeit von wirtschaftlichen Interessen ganz oben auf der Liste der Anforderungen steht. Nur zwei von 21 Leitlinienautoren geben bei zitierter Schrift keinen Interessenskonflikt mit der pharmazeutischen Industrie an. Fast 3/4 der Autoren hat gar einen Interessenskonflikt mit Herstellern der neuen PCSK-9-Hemmer. Dazu muss man wissen, dass der Gemeinsame Bundesausschuss (GBA) bereits 2016  festgelegt hat, dass diese Medikamentengruppe nur dann verordnen werden dürfe, wenn „trotz einer über zwölf Monate dokumentierten maximalen diätetischen und medikamentösen Therapie (…) der LDL-C-Wert nicht ausreichend gesenkt werden kann“ [2]. Diese Hürde wurde mit den „neuen Grenzwerten“ massiv abgesenkt. 

Die ESC finanziert sich mit 75,5% (rund €54 Mio) ihrer Gesamteinnahmen aus direkten Mittel aus der Pharmaindustrie [10].  Wie unabhängig eine Fachgesellschaft handeln kann, die finanziell so am Tropf der Industrie hängt, liegt auf der Hand. 

4. Fazit – wie man mit der Leitlinie umgeht

Als Hausärzt:innen werden wir uns weiter höchstselbst mit der Studienlage der Strategien zur Behandlung von Fettstoffwechselstörungen auseinandersetzen müssen, um mit unseren Patient:innen zusammen die klügste individuelle Behandlungsentscheidung fällen zu können.

Im speziellen Fall der ESC-Leitlinie kann diese allenfalls die Position einer “Expert:innenempfehlung” für uns einnehmen – und diese haben bei entsprechendem Vorliegen kontrollierter Studien eine nachrangige Bedeutung! 

Quellen:
[1] MACH, F. et al.: Eur. Heart J., online publ. am 31. Aug 2019; doi: 10.1093/eurheartj/ehz455 (78 Seiten)
[2] Gemeinsamer Bundesausschuss: Alirocumab, Beschluss vom 4. Aug. 2016. BAnz AT 24.10.2016 B2; http://www.a-turl.de/?k=esew
[3] FERNANDEZ-FRIERA, L. et al.: Prevalence, Vascular Distribution, and Multiterritorial Extent of Subclinical Atherosclerosis in a Middle-Aged Cohort: The PESA (Progression of Early Subclinical Atherosclerosis) Study. Circulation 2015; 131: 2104-13
[4] Nambi V et al: Carotid intima-media thickness and presence or absence of plaque improves prediction of coronary heart disease risk: the ARIC (Atherosclerosis Risk In Communities) study.J Am Coll Cardiol. 2010 Apr 13;55(15):1600-7
[5] LACLAUSTRA, M. et al.: Femoral and Carotid Subclinical Atherosclerosis Association With Risk Factors and Coronary Calcium: The AWHS Study. J. Am. Coll. Cardiol. 2016; 67: 1263-74
[6] PER SCREENING ENTDECKTE KAROTIS- PLAQUES BEI GESUNDEN – WAS TUN? a-t 2016; 47: 118-21
[7] SABATINE, M.S. et al.: N. Engl. J. Med., online publ. am 17. März 2017 doi:10.1056/NEJMoa1615664
[8] Arzneitelegramm 2018; 49: 98-100
[9] Heart Protection Study Collaborative Group. MRC/BHF Heart Protection Study of cholesterol lowering with simvastatin in 20,536 high-risk individuals: a randomised placebo-controlled trial. Lancet 2002;360:7-22
[10] https://www.escardio.org/static-file/Escardio/About%20the%20ESC/Annual-Reports/ESC-Annual-Report-2018.pdf

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