Ja – bis Ärzt:innen aufstehen und protestieren ist in der Regel viel an Belastungen erforderlich, fällt es unserem Berufsstand doch nicht so leicht, die Arbeit einfach liegen zu lassen. Es ist der Idealismus, der berufliche Ethos, der uns daran hindert.
Nun ist es kein Pilotenstreik zur Hauptflugzeit, kein Bahnstreik im Berufsverkehr sondern schlicht ein einziger Tag, an dem auch wir unserem Unmut Gehör verleihen wollen.
Entsprechend bleibt unsere und viele andere Hausärzt:innenpraxen in der Region am Mittwoch den 19.10.2022 für Routineangelegenheiten geschlossen. Für die Aufrechterhaltung der Sicherstellung werden wir für alle „streikenden“ – pardon: „protestierenden und sich fortbildenden“ Praxen die Notfallversorgung übernehmen. Damit ist aber auch genau das gemeint: Notfall-Versorgung!
Warum wir Hausärzt:innenpraxen uns unter Federführung des Hausärzteverbands Baden-Württemberg dazu entschlossen haben lässt sich durch mehrere zu kritisierende Sachverhalte erläutern.
Gefährdete Attraktivität des Hausärzt:innenberufs
Die Bevölkerung hat ein Recht auf eine qualitativ hochwertige Versorgung im medizinischen Bereich – das muss auch in Zukunft so gewährleistet sein! Die aktuellen, medial allgegenwärtig kommunizierten Sparmaßnahmen führen nun, nach einem „Aufschwung“ der Allgemeinmedizin in Baden-Württemberg, erstmals wieder zu sehr kritischen, zurückhaltenden und gar frustrierten Stimmen unter Nachwuchsärzt:innen. Der noch eben tiefe Wunsch nach Niederlassung wird in zahlreichen Fällen von den offensichtlichen Vorzügen eines Anstellungsverhältnisses überdeckt. Wir brauchen aber genau diese jungen Mediziner:innen, die bereit sind, eine Hausärz:innenpraxis zu führen! Ohne niedergelassene Praxen wird es letztlich auch keine Anstellungsmöglichkeiten für Ärzt:innen geben und die ohnehin schon schwierige Lage in der hausärztlichen Versorgung unserer Region wird sich noch weiter zuspitzen. Hausärztliche Medizin muss attraktiv für den Nachwuchs sein – dafür muss auf allen Ebenen gearbeitet werden.
Versorgung der Patient:innen
Täglich erleben wir verzweifelte Anfragen von Menschen, die eine hausärztliche Versorgung suchen. Schon heute ist die Nachfrage auch in Bad Mergentheim und Umgebung nicht vollständig von den hier tätigen Praxen zu decken. Versorgende Ärzt:innen im Rahmen von Heimaufenthalten zu finden wird für die Pflegekräfte nicht selten zur schier unmöglichen Mammutaufgabe. Diese Missstände sind mitnichten einer fehlenden Arbeitsbereitschaft der niedergelassenen Praxen geschuldet, sondern schlicht der fehlenden Zahl von Mediziner:innen. Mehr Ärzti:innen vor Ort zu einer hausärztlichen Niederlassung zu bringen muss höchste Priorität haben. Dies ist essenziell für Patient:innen, die eine medizinische Versorgung benötigen, wie auch für die niedergelassenen Ärzt:innen, die eines Tages ihre Praxis an eine:n Nachfolger:in übergeben möchten.
Finanzierungssituation
Bei 2% verhandelter Honorarerhöhung und 8% Inflation bei massiv steigenden Energiekosten sehen wir uns faktisch einer Honorarkürzung gegenüber, die das finanzielle Fundament von Praxen gefährdet. Anders als in Wirtschaftsbetrieben, wo Preissteigerungen zumindest teilweise auch an die Verbraucher weitergegeben werden können, sind die Honorare für die hausärztliche Tätigkeit gedeckelt und bedeuten so einen empfindlichen Verlust. Gleichzeitig sehen wir uns moralisch unseren Angestellten gegenüber verantwortlich und wollen auch die anstehenden Tarifsteigerungen (z.B. das nächste Mal schon im Januar 2023) wieder freiwillig umsetzen! Auch Coronaboni wurden in den Hausärzt:innenpraxen gänzlich alleine durch die Arbeitgeber finanziert – auch dies stellte sich bei Kliniken und im öffentlichen Dienst anders dar.
Pandemie light?
Die Infektionszahlen steigen, unverändert ist an einen normalen Praxisbetrieb nicht zu denken. So fehlen unserer Praxis wöchentlich ca. 17 Ärzt:innenstunden, die ausschließlich für Infektsprechstunden blockiert sind und nicht mehr für die allgemeine Patientenversorgung zur Verfügung stehen. Gleichzeitig wurden alle Pandemieleistungen (Zuschlag zur Corona-Schwerpunktsprechstunde, Vergütung von Abstrichen, etc.) aufgrund politischer Entscheidungen abgekündigt. Hier muss nachjustiert werden – die Leistungen der niedergelassenen Praxen in der Pandemie müssen in Erinnerung gerufen und angemessen vergütet werden!